Das Risiko im Bergsport einschätzen: Ohne doppelten Boden
Die Zeiten als nur die wildesten und verwegensten Berge bestiegen wurden, sind vorbei. Bergsport boomt, trotz oder gerade wegen der Risiken. Oder ist das alles gar nicht (mehr) gefährlich?
Ein schlecht verklemmter Klotz im Blockgelände. Eine eher unbewusst getroffene Entscheidung. Der Schritt nach rechts, nicht links. Kurzes Kippeln. Dann kommt der Block ins Rutschen und die Autorin mit ihm. Ein Schockmoment. Kein dramatischer Sturz, aber ein eingequetschter Fuß. Abtransport per Helikopter, drei Wochen Krücken und bis heute ein schlechtes Gefühl in einer Geländeart, die sie zuvor nie als gefährlich wahrgenommen hatte.
Was ist am Berg gefährlich?
Lässt sich Sicherheit messen? Risiko in Zahlen fassen? Kaum. Was sich beziffern lässt: Unfälle. Die Alpenvereine, Bergrettungsorganisationen und das Österreichische Kuratorium für alpine Sicherheit (ÖKAS) erstellen jedes Jahr Unfallstatistiken. Dort stehen die nackten Zahlen, aufgeschlüsselt nach Toten, Verletzten, Unverletzten.
Wandern, Klettersteig, Klettern: Zahl der Verletzten sinkt
Für das Jahr 2019, das letzte ohne pandemiebedingt geschlossene Skilifte und Wanderboom aus Mangel an Alternativen, sind in der Unfalldatenbank des ÖKAS 11.986 verunfallte Personen, davon 7.724 Verletzte gelistet. Die Statistik des DAV weist 2.335 Menschen in Notlagen aus.
Als in Österreich gerettetes DAV-Mitglied erscheint die Autorin in beiden Statistiken. Während die ÖKAS-Statistik alle von der Alpinpolizei Österreich aufgenommenen Unfälle umfasst, darunter etwa auch Forstunfälle, beziehen sich die DAV-Zahlen auf Meldungen der Mitglieder an die Bergunfallversicherung.
Fast 400 Bersportler in den Bergen gestorben
Im Jahr 2019 lag sowohl die Zahl der Verletzten als auch die der Toten – 304 in Österreich, 85 DAV-Mitglieder – über dem langjährigen Mittel.
Die Zahlen schwanken jedes Jahr, im langjährigen Vergleich zeigt sich aber: Die absolute Zahl der Todesfälle bleibt in etwa konstant, geht also – wie auch die Zahl der Verletzten – in Relation zur Menge der Bergsporttreibenden zurück.
Bergsport wird immer sicherer
Ist Bergsport heute also sicherer? "Vereinfacht gesagt: ja", meint Roland Ampenberger, Pressesprecher der Bergwacht Bayern.
"Angesichts der extrem hohen Frequentierung der Bayerischen Alpen und der Mittelgebirge sind die Unfallzahlen nicht verwunderlich beziehungsweise erwartbar. Ein großer Teil davon sind Sportverletzungen wie Umknicken oder akute Notfälle, Stürze auf die Schulter oder Herzinfarkt. Bei Einsätzen, bei denen nicht die Verletzung im Vordergrund steht, wird aber auch sichtbar, mit wie wenig Reserven an Erfahrung und persönlichem Können sich Menschen oft sehr weit exponieren, häufig unbewusst."
Klimawandel verändert die Berge
Aktuelle Verhältnisse und Wetter sind häufig Unfallursache. Und obwohl die Berge zwar ein zunehmend mit Bohrhaken, Drahtseilen und Lawinenverbauungen versicherter und immer besser erforschter Raum sind, werden sie zumindest in Teilen unsicherer. Schuld ist der Klimawandel. Der Schwund der Gletscher und der auftauende Permafrostboden bedingen Steinschlag.
Wanderungen werden durch den Klimawandel gefährlicher
In der Folge werden Touren anspruchsvoller und gefährlicher. Auch Starkwetterereignisse spielen eine Rolle. Im Juni 2020 mussten zum Beispiel nach einem Unwetter die Gäste der Höllentalangerhütte evakuiert werden, im Sommer darauf gab es nach Starkregen eine Rettungsaktion in der Höllentalklamm.
Bohrhaken statt Hanfseile
Egal ob Kleidung oder persönliche Schutzausrüstung, in Sachen Material und Ausrüstung hat sich den letzten Jahrzehnten viel getan. In den 1940er-, 1950er-Jahren kamen die ersten Bohrhaken auf, lösten dynamische Seile mit Kern-Mantel-Konstruktion die Hanfseile ab, später wurden Hüftgurte und LVS-Geräte erfunden.
Meilenstein DAV-Sicherheitsforschung
"Ein riesen Meilenstein in der Sicherheitsentwicklung war 1968 die Gründung der DAV-Sicherheitsforschung (SiFo), damals noch Sicherheitskreis genannt", sagt Julia Janotte, die bei selbiger arbeitet.
Nachdem Materialversagen zum Tod eines Bergfreundes geführt hatte, gründete der Ingenieur Pit Schubert mit einer Grupper lokaler Bergsteigergrößen den Sicherheitskreis. Dieser brachte nicht nur die Materialentwicklung enorm voran, sondern sorgte auch dafür, dass Klettergurte und Helme zur persönlichen Schutzausrüstung erklärt wurden und seitdem Normen unterliegen.
Menschliches Verhalten statt Materialforschung
"Die Materialproblematik ist heute weitgehend gelöst, Hersteller entwickeln laufend besseres und dabei leichteres Material. Seile reißen beispielsweise kaum mehr, außer bei Scharfkantenbelastung", sagt Julia Janotte, die Ausrüstungstests anders als die Pioniere der SiFo nicht mehr zu ihren zentralsten Aufgaben zählt.
"Inzwischen haben Studien zu menschlichem Verhalten die Ära der Materialforschung abgelöst." Die SiFo beschäftigt sich mit Mitreißunfällen, Unfällen in Kletterhallen, beim Wandern und auf Skitour. Die Erkenntnisse aus Versuchen und Studien fließen in die Lehrmeinung ein, sind Grundlage für Empfehlungen und Instrumente zur Tourenplanung.
Der entscheidende Faktor Mensch
Während Materialversagen inzwischen nur noch selten Unfallursache ist – außer bei Fehl- oder Nichtanwendung wie etwa beim Absturz in Klettersteigen, so Julia Janotte, scheint mittlerweile der Mensch das Problem zu sein.
Dabei war es nie so einfach, gut vorbereitet zu einer Tour zu starten. "Im Großen und Ganzen sind die Bergsteiger heute besser ausgebildet und die Leute, die sehr anspruchsvolle Touren machen, meist auch wirklich sehr gut", sagt Gerhard Mössmer, Bergführer, Bergretter, Vorstandsmitglied des ÖKAS und in der Abteilung Bergsport des ÖAV für Ausbildung, Sicherheit und Lehrmaterial verantwortlich.
Kurse und Angebote von Alpenvereinen
"Das Kursangebot von Alpenvereinen und Bergschulen ist niederschwellig zugänglich und wird gut angenommen." Der Zulauf könnte an den Veränderungen in der Ausbildung liegen. Methodik und Didaktik haben einen höheren Stellenwert.
"In unseren Kursen geht es jetzt weniger um die theoretischen Hintergründe wie Festigkeit von Bandmaterial oder die Feldlinien des LVS-Geräts, sondern wir beschränken uns auf das Essenzielle, bei Lawinenkursen also auf Suchen, Sondieren, Ausgraben und Erste Hilfe", erklärt Gerhard Mössmer.
Wetterbericht und GPS in der App
Dazu kommt: Erkenntnisse aus der Forschung werden heute nicht nur in Fachmagazinen reproduziert, sondern sind für die Allgemeinheit leicht verfügbar. Zusammen mit dem technischen Fortschritt bedeutet das einen immensen und jederzeit abrufbaren Wissensschatz.
Wetterbericht, Karte mit persönlichem Standort und Lawinenlagebericht hat heute jeder in der Hosentasche. Auch das Bestimmen der Hangneigung übernimmt bei Bedarf eine App und gibt anhand der digitalen Snow card, einem Instrument zur Risikobewertung auf Skitour, Empfehlungen gleich mit.
Mehr Möglichkeiten, mehr Risiken
"Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten, mit den Unsicherheiten am Berg umzugehen", stellt Roland Ampenberger von der Bergwacht fest. Was wir allerdings aus den vorhandenen Möglichkeiten machen, liegt an uns selbst. Versuchen wir, das knappe Wetterfenster auszureizen, weil das Gewitter ja erst um 13.47 Uhr kommen soll? Ziehen wir die mitunter als zu defensiv empfundene Snowcard überhaupt zu Rate? Interpretieren wir eine Spur in einem heiklen Hang als Freifahrtschein? Verwechseln wir persönliche Erfahrung (hier ist ja noch nie was passiert) mit Wissen?
Der Faktor Mensch ist eine entscheidende Größe, wie es Roland Ampenberger formuliert. Ihn zu erforschen ist heute die Hauptaufgabe der SiFo. Ihn bei allen Entscheidungen mitzudenken, das täglich Brot der Bergführer.
Selbsteinschätzung ist Sicherheit am Berg
"Sicherheit entsteht durch drei Punkte: die richtige Ausbildung und Wissen, häufiges Anwenden des Gelernten und ständige Selbstreflexion. Dass das Hinterfragen des eigenen Handelns eine Möglichkeit ist, sich weiterzuentwickeln, wird den Bergführeraspiranten bereits in der Ausbildung vermittelt", sagt Michael Lentrodt, Präsident des Verbands der Deutschen Berg- und Skiführer.
Wobei er statt von Sicherheit lieber von Risikomanagement spricht: "Zu suggerieren, es gäbe eine Garantie für Sicherheit, wäre unseriös. Aber wir haben Werkzeuge, um das Risiko zu minimieren."
Was ist die GKMR-Methode?
Die deutschen Bergführer arbeiten beispielsweise nach der GKMR-Methode. Bei der Tourenplanung, beim Start und vor kritischen Stellen wägen sie die Punkte Gefahr, Konsequenz, Maßnahme und Risiko ab und beziehen dabei stets den Faktor Mensch ein. Welche Informationen zur Gefahrenlage gibt es? Welche Konsequenzen könnte die Gefahr haben (z. B. Größe der Lawine)? Welche Maßnahmen dem gegenzusteuern habe ich? Und wie schätze ich das Risiko auf Basis der zuvor betrachteten Faktoren abschließend ein?
Natürlich könnten und sollten auch Normalbergsteiger diese Werkzeuge nutzen, allerdings fehlten den meisten differenziertes Wissen und Routine, sagt Michael Lentrodt.
Fehlende Selbsteinschätzung am Berg
Auch an der Selbsteinschätzung scheint es oft zu hapern. Das zeigen die steigenden Zahlen an Blockierungen, also Notfällen bei denen unverletzte Bergsteiger aufgrund von Schwäche, Wetter oder Verirren nicht mehr weiterkommen.
"Ich werde richtig sauer, wenn jemand das Weißhorn gebucht hat, aber nicht mal Steigeisen anziehen kann. Das Ziel muss zu den Fähigkeiten passen, auch wenn ein Bergführer dabei ist. Selbstüberschätzung ist weit verbreitet", erzählt Gerhard Mössmer.
Berg-Ausrüstung macht noch keinen Bergsteiger
Ähnliches kritisiert Michael Lentrodt: "Es gibt viele, die mit einer Wahnsinnsausrüstung daherkommen und meinen, damit fehlendes Können zu kompensieren. Der Airbag wird’s schon richten. Aber Ausrüstung macht noch keinen Bergsteiger." Soziale Medien und Tourenplattformen, die sich als Informationsquelle für Tourenbedingungen durchaus sinnvoll nutzen lassen, haben laut Einschätzung Lentrodts auch negative Auswirkungen. "Die Leute setzen sich mehr unter Druck, weil sie das Gefühl haben, coole Sachen posten zu müssen. Die Tendenz, etwas erzwingen zu wollen, nimmt zu."
Für Bergführer stellt dies eine neue Herausforderung dar. Als Risikomanager sollen sie im Sinne der Kunden das Risiko klein halten, weil die es selbst nicht einschätzen können, agieren dadurch aber vermeintlich gegen deren Willen. "Die Kunden durch einen transparenten Führungsstil von den Entscheidungen überzeugen, ist die große Kunst", sagt Michael Lentrodt.
Für Menschen, die ohne Bergführer unterwegs sind, wäre die Konsequenz aus dieser Beobachtung, bereits bei der Tourenplanung noch ehrlicher zu sich selbst zu sein: Sich selbst sowie die Bedingungen realistisch einschätzen und die eigenen Motive hinterfragen.
"Absolute Sicherheit am Berg wird es nie geben"
Werden wir also bald Kurse zum Thema Selbsteinschätzung und Eigenverantwortung belegen? Gerhard Mössmer versucht in all seinen Kursen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass am Berg jeder selbst verantwortlich ist. "Man muss selbst vernünftige Entscheidungen treffen und für die Folgen geradestehen." Wer das nicht möchte oder (noch) nicht kann, sollte sich an einfache Touren halten oder an geführten Touren teilnehmen.
"Absolute Sicherheit am Berg wird es nie geben", sagt Roland Ampenberger. "Und obwohl die Bergrettung im Alpenraum inzwischen hochprofessionalisiert und Hilferufen dank Handys viel einfacher ist – ein enormer Sicherheitsgewinn –, ist eine Rettung nicht immer möglich." Nicht überall gibt es Handynetz, nicht bei jedem Wetter fliegt der Helikopter – und massive Selbstgefährdung setzen Grenzen für die Bergrettung.
Restrisiko bleibt
Allerdings macht ja gerade das Unberechenbare, das Wilde und Raue der Natur den Reiz der Berge aus. "Das ist der Unterschied zwischen Skitour und Pistentour: Das Erleben wird in einer Umgebung, in der man Restrisiken ausgesetzt ist, viel intensiver", formuliert es Michael Lentrodt.
Restrisiko und ein gewisser Grad an Unberechenbarkeit unterscheiden Bergsport von Sport oder Fitnesstraining, egal ob Skitouren im Gelände, Klettern in hohen Wänden (möglicherweise wenig abgesichert) oder seilfreies Kraxeln.
Risiko am Berg oder Bergführer?
Auch die Autorin hatte am Tag ihres Unfalls die Ausgesetztheit der Berge gesucht. Anschließend fragte sie sich: Hat es so kommen müssen? War der Rucksack zu schwer, um schnell zu reagieren? Die Tour zu ambitioniert? Oder war es Pech? Sie beschloss für sich: Es war Glück, dass der Unfall im Zustieg passiert ist.
Die Entscheidung, wie viel Risiko man am Berg für sich selbst akzeptiert, muss jeder selbst treffen, aber er oder sie sollte es bewusst und auf möglichst guter Datenlage und Selbsteinschätzung tun – oder sich einen Bergführer nehmen.