Extrembergsteigerin Tamara Lunger im Interview: So erlebte sie die tragische Expedition am K2
Tamara Lunger ist eine der erfolgreichsten Bergsteigerinnen der Welt. Im Interview spricht die Südtirolerin über die Tragödien am K2, warum sie vor ihren Expeditionen immer ein Abschiedsfest macht und wieso sie ihre eigene Beerdigung geplant hat.
Im Dezember 2020 brach die 34-jährige Südtirolerin Tamara Lunger zum K2 auf, um das „letzte Problem im Himalaya“ zu lösen. Die Winter-Expedition endete in einem Albtraum. Ein Seilpartner stürzte vor ihren Augen in den Tod, ein anderer wird seit Wochen vermisst und wurde im Februar 2021 für tot erklärt. Wenige Monate später hat Tamara Lunger mit Andreas Haslauer erstmals über die Ereignisse gesprochen.
Bergsteiger: Frau Lunger, vor einigen Wochen sagten Sie noch, dass Ihre Liebe dem K2 gehört. Sehen Sie das heute immer noch so?
Tamara Lunger: An meiner Einstellung zum K2 hat sich nichts geändert. 2014 habe ich ihn im Sommer ja schon mal bestiegen, um meinen Liebeskummer damals zu verarbeiten. Der Berg hat mir unfassbar viel gegeben. Dort begann meine Karriere, eigentlich mein Leben.
„Ich wäre der glücklichste Mensch auf Erden, wenn ich es schaffen würde, als erster Mensch im Winter auf dem Gipfel des K2 zu stehen. Damit wäre das letzte Problem im Himalaya gelöst“, haben Sie vor Ihrer Abreise erzählt …
… inzwischen ist leider sehr viel Schreckliches und sehr viel Schlimmes passiert.
Was genau?
Ich kam am 29. Dezember im Basislager an, als die Gruppe der zehn Nepalesen sich schon am Berg akklimatisiert hatte. Am 16. Januar schaffte es dann Nirmal Purja mit seinem Team, als erster Mensch den K2 im Winter zu besteigen. Das ist bei minus 70 Grad und Windgeschwindigkeiten von 70 Sachen eine herausragende Leistung.
Waren Sie nicht gefrustet, dass Sie es nicht geschafft haben?
Als sie vom Gipfelerfolg zurückkamen, habe ich mich wahnsinnig für sie gefreut.
Wirklich gar kein bisschen neidisch?
Ich habe mich aus vollem Herzen für Nirmal gefreut. Dennoch wollte ich von ihm wissen, ob er den K2 mit oder ohne Sauerstoff bestiegen hat. Denn das ist meine – und für viele Bergsteiger nur die einzige richtige Art, Berge zu besteigen: Ohne Sauerstoff. Ich bekam auf meine Frage keine Antwort. Er druckste nur so komisch rum. Einen Tag verkündete er dann der Weltpresse, dass er ohne Sauerstoffmaske auf dem K2 stand.
Glauben Sie ihm?
Sagen wir es so: Wenn ich den K2 im Winter ohne Sauerstoff bestiegen hätte, wäre ich stolz auf mich gewesen, hätte es jedem erzählt, der es wissen wollte oder auch nicht (lacht). Ich wünsche mir und glaube immer an die Ehrlichkeit in den Menschen.
Sie haben mit dem rumänischen Bergsteiger Alex Gavan eine Seilschaft gebildet …
…was keine gute Idee war. Es gibt Charaktere, mit denen kommt man klar und mit anderen nicht. Alex gehört zur zweiten Kategorie. Er ist ein durch und durch komplizierter Mensch. Im Alltagsleben komme ich mit solchen Menschen zurecht, aber nicht, wenn man sich gemeinsam im Winter in die Todeszone begibt und jeder kleinste Fehler schon einer zu viel sein kann.
Haben Sie ein Beispiel?
Die Trekking-Reise zum Basecamp dauerte eine Woche. Obwohl wir zusammen mit dreißig Leuten unterwegs waren, wollte Alex immer nur mich neben sich haben. Ich wollte jedoch viel lieber mit der „spanischen Fraktion“ meine Zeit verbringen. Mit Juan Pablo Mohr, nur „JP“ genannt, mit Carlos Garranzo und mit Sergi Mingote.
Mit den Jungs war das wie früher im Schullager: Wir lachten, tanzten und sangen zusammen. Es war eine tolle, fast schon magische Energie zwischen uns. Wir, also Alex, die drei „Spanier“ und ich, beschlossen dennoch, gemeinsam die Rotationen auf dem K2 zu machen.
Rotationen sind am Berg die ständigen Auf- und Abstiege zu den Lagern, um sich zu akklimatisieren.War es harmonisch?
„Du bist das Problem“, hat Alex gleich am Anfang zu mir gesagt. Nicht er wäre am Berg zu langsam, sondern ich zu schnell. Bei jedem Aufstieg war es aber so, dass die Spanier und ich alle Zelte aufstellten, weil Alex immer erst in der Finsternis ankam. Das hat mich total belastet, schließlich hatten wir eine Seilschaft beschlossen, somit war ich auch für ihn verantwortlich.
Als ich eines Abends alleine im Zelt war, habe ich aus Angst um ihn geweint und ihm dann mitgeteilt, als er ankam, dass ich nicht mehr mit ihm weiter gehen könne. „Bei einer Partnerschaft muss man sich Kraft geben, lieber Alex. Du nimmst sie mir aber die ganze Zeit.“ Ich habe versucht mein Know-how und meine Kraft so gut es geht in das Team einzubringen, aber irgendwie hat es zwischen uns einfach nicht hingehauen.
Wie meinen Sie das?
Mitten in der Nacht bei den Temperaturen ein Zelt aufzubauen, ist nicht sehr klug, das kann zu schlimmen Erfrierungen führen. Und: Jeder Fehltritt kann in den eisigen Höhen tödlich sein. Als ich ihm die Entscheidung, mich von ihm trennen zu wollen, mitteilte, beleidigte er mich, wie mir noch kein Mensch zuvor mit Worten weh getan hat.
Am nächsten Tag sind er und ich aus dem Lager II abgestiegen, JP und Sergi wollten vom Lager III erst später los. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass es einer der traurigsten Tage meines Lebens werden würde.
Was ist passiert?
Ich saß gerade vor dem vorgelagerten Basislager auf einem Stein und genoss die Sonne. Plötzlich hörte ich von oben Schreie. Ich sah etwas, das sich immer und immer wieder überschlug, bis ich realisierte, dass das ein Mensch war.
Beim Freeriden, also beim Skifahren im Tiefschnee, nennt man das einen „Tomahawk“, wenn es einen mehrfach überschlägt. Hier war nur kein Pulverschnee, sondern pures Eis, der so hart wie Beton ist. Etwa 40 Meter neben uns kam Sergi zum Liegen. Er lag fast vor unseren Füßen.
Wie tief ist er abgestürzt?
600, 700 Meter. Wir sind hingerannt und waren froh, dass er noch atmete. Die ganzen Steigeisen an den Füßen waren total verbogen – ein kontrollierter Sturz war unmöglich.
Wie schwer war er verletzt?
Ich konnte die Schwere der Verletzungen durch den dicken Daunen-Overall nur erahnen. Das einzige, was ich sehen konnte, war, dass die Beine mehrfach gebrochen sein mussten. „Sollten wir Sergi auf den Rücken legen?“, habe ich Alex gefragt. Wir entschieden uns dagegen, weil wir vermuteten, dass auch seine Wirbelsäule beschädigt war.
Was haben Sie dann unternommen?
Wir versuchten, zuallererst einmal ein bisschen Ruhe zu bekommen und das Basislager zu informieren, damit sie die Rettung einleiten können. In dem Moment kam JP angerannt. Ich habe noch nie jemanden auf einem Achttausender rennen sehen.
Wir zogen Sergi Handschuhe an, versuchten, ihn so gut wie möglich vor dem Auskühlen zu schützen. Wir redeten mit ihm und waren einfach da. Bis zu seinem letzten Atemzug. Wir funktionierten, auch wenn Sergis Anblick schwer zu ertragen war.
Wieso?
Sein Schädel und sein Gesicht waren aufgespalten. Wir haben dennoch alles Menschenmögliche unternommen: Wir haben sein Gesicht auf eine Isomatte gelegt, ihn mit einem Schlafsack zugedeckt. Wir haben ihn gestreichelt, damit er merkt, dass wir für ihn da sind, er nicht aufgeben soll. Irgendwann erreichte uns der Arzt aus dem Basislager. Als er Sergi sah, schüttelte er nur den Kopf. „Es tut mir leid“, sagt er nur.
Lebte er noch lange?
Er atmete noch mehr als eine Stunde.
Wie erging es Ihnen nach dem Tod Ihres Bergsteiger-Kameraden?
Ich stand die ersten 24 Stunden unter Schock, dann weinte ich.
„Ich kann nur dankbar sein, dass ich ihn auf meinem Weg getroffen habe!“, haben Sie in den sozialen Medien über Sergi geschrieben. „Danke, Sergi! Für unsere Tanzen auch auf Camp 1, für unser Lachen.“ Und weiter: „Wer weiß, wo dieses Abenteuer uns hinführt, aber ich weiß, dass du bei uns sein wirst!“
Sergi war ein toller Mensch. Für mich war das alles schon tragisch, für JP noch schlimmer. Er musste von oben mit ansehen, wie Sergi ein paar Meter neben ihm senkrecht in die Tiefe stürzte. Er hat die Katastrophe sogar mit seiner Helm-Kamera aufgenommen. Danach haben wir die Aufzeichnung weinend zusammen angeschaut. JP schreit auf dem Video die ganze Zeit voller Angst und Schrecken: „Halt! Halt! Halt! Halt! Halt! ...“.
Wie haben Sie das verarbeitet?
In den Tagen danach war JP wie eine Art Medizin für mich. Wir haben zusammen getrauert, zusammen geweint und uns mental gegenseitig gestärkt. Und uns mit dem Aufstieg beschäftigt. Wir wollten auf den K2! Unser Plan war es, ein Lager IV aufzumachen, um nicht an einem Stück, also 1300 Höhenmeter, sondern „nur“ 700 Höhenmeter am Gipfeltag aufzusteigen.
Sind die zehn Nepalesen nicht direkt vom Lager III auf den Gipfel gestiegen?
Ich wollte bei der Kälte nicht sechs oder sieben Stunden in der Dunkelheit aufsteigen. Ich dachte, es wäre besser, noch ein paar Stunden im Lager IV zu schlafen und erst dann auf den Gipfel zu gehen. Am 2. Februar machten wir uns vom Basecamp Richtung Lager I auf. Dabei hoffte ich inständig, dass ich mich da oben ein bisschen erholen könnte.
Erholung auf knapp 6000 Metern?
Die ganze Zeit über hatte ich schon mit Husten und Durchfall zu kämpfen. Und wie es bei mir immer so ist, wenn ich auf einen Achttausender steigen will, bekomme ich natürlich meine Tage. Das nervte nicht nur, sondern schlauchte auch. Ich lag wie ein Häufchen Elend im Lager III im Eck, musste mich immer wieder übergeben. Auch einige andere Bergsteiger kamen zu uns ins Zelt, um sich für den Gipfel bereit zu machen.
Wieso denn das?
Draußen standen 15 Mann und nur zwei Zelte. Die Teilnehmer der anderen Expeditionen waren außer sich und wütend. Vielleicht hat dieses Drama vielen das Leben gerettet.
Wie kommen Sie darauf?
Sie hatten bei den Platzverhältnissen in den Zelten keine Chance, sich zu regenerieren, geschweige denn zu schlafen. Sie stiegen ab. JP war hingegen voll motiviert. Für ihn war klar, dass er dieses Mal ohne mich aufsteigen musste, ich fühlte mich einfach nicht stark genug und wusste dass das nicht mein Moment war.
Als JP gegen Mitternacht am 5. Februar aufbrach, war es das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe. Er ist vollen Mutes los, ich zitterte in zwei „Minus 40 Grad“-Schlafsäcken. Selbst das Pinkeln war eine Katastrophe.
Beim letzten Mal haben Sie in eine Flasche gepinkelt.
Aus Gewichtsgründen habe ich mich dagegen – und für eine Pringles-Dose entschieden.
Sie meinen die gleichnamigen Chips?
Zuerst isst man natürlich die Pringles und dann benutzt man die Dose „anderweitig“ (grinst). Ich konnte in der Nacht kaum schlafen, weil ich wusste, dass „JP“ gerade irgendwo da draußen in der Todeszone unterwegs ist. Er versprach mir jedoch, sich über das GPS-Gerät bei mir zu melden. Gleich am Morgen schaute ich nach: nichts! Keine Nachricht, nichts. Daraufhin schrieb ich ihm und fragte, wie es ihm geht und wo er ist.
Hat er sie bekommen?
Leider nein, das konnte ich in der App erkennen. Mich machte das nicht nervös, weil ich selbst keine Lust verspüre, Nachrichten bei 60 Grad minus zu verschicken. Vielleicht war auch die Batterie leer? Das Wetter schlug auf jeden Fall um, so, als würde der K2 zu mir sagen: „Tamara, schau‘ dass Du abhaust“.
Dann folgte eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Beim Abstieg teilte mir ein Sherpa mit, dass Atanas Skatov, ein Bulgare, unterhalb des Lagers III in den Tod gestürzt sei. Voller Trauer bin ich mit dem Iren Noel Hanna heulend abgestiegen. Erst um zwei Uhr morgens waren wir im Basislager.
Wo war JP?
Noel und ich sahen beim Abstieg hinter uns immer eine Stirnlampe, dachten, dass es JP wäre. Er war es aber nicht. Von den drei Bergsteigern, dem Pakistaner Muhammad Ali Sadpara, dem sechsfachen Vater John Snorri Sigurjónsson aus Island und meinem chilenischen Freund „JP“ fehlte jede Spur.
Alle sind in der Nacht los. Nur Ali Sadparas Sohn Sajid, der den Gipfelsturm abbrach, wartete im Lager III alleine auf seinen Vater und die anderen. Vergebens. Es gab keine Lebenszeichen mehr von ihnen.
Was ist das für ein Gefühl?
Für mich fühlte es so an, als würde meine Seele sterben, mein Körper brennen. Ich habe stundenlang gebetet, den Männern ganz viel positive Energie geschickt. Für mich war aber schnell klar: eine Nacht kann man dort oben überleben, aber keine zwei oder drei.
Gab es eine Rettungsaktion?
Das pakistanische Militär flog mit den Hubschraubern tagelang so hoch sie konnten. Sie sahen und fanden aber nichts: kein Material, keine Lawine, keine Bergsteiger. Das einzige, was mir hilft, ist die Tatsache, dass die Bergsteiger auf über 8000 Metern ein würdiges Grab gefunden haben.
John Snorri, das haben die Ermittler im Nachhinein noch festgestellt, hat wohl abends um sieben Uhr mit dem Satelliten-Telefon noch versucht, seine Frau anzurufen.
Hat er sich von ihr verabschieden wollen?
Wir wissen es nicht. Eine Bestätigung brauche ich auch nicht. In dem Moment, als ich drei Tage nichts von ihnen hörte, starb meine Hoffnung.
Wie meinen Sie das?
Die Tatsache, was genau dort oben passiert ist, bringt meine Freunde nicht mehr zurück. Da ist aber jeder Mensch anders in seiner Trauer. Sajid will beispielsweise im Sommer eine große Rettungsaktion starten, um seinen Vater zu finden und ihn zu beerdigen.
Fragen Sie sich nicht manchmal: Ist das alles ein Berg wirklich wert?
Ich bin dankbar, dass ich mit diesen tollen Menschen ihre letzten Tage verbringen durfte. Dass, was mir hingegen zu schaffen macht, ist, dass ich mich von JP nicht verabschieden konnte, wie ich es gerne getan hätte. Er war so etwas wie meine Dual-Seele. Das tut einfach nur weh.
Wie schauen Sie auf diese Expedition zurück?
Ich versuche, trotz der Tragödien der Sache noch etwas Positives abzugewinnen. Was das genau ist, kann ich noch nicht sagen. So weit bin ich noch nicht. Bisher ist es wie ein Abenteuer, das wie ein Traum begann und in einem Albtraum endete.
Wie geht es mit Ihnen weiter?
Auch das weiß ich nicht. Momentan merke ich, dass ich vielleicht mal was machen sollte, damit nicht mein ganzes Umfeld, also meine Familie und Freunde, nicht immer um mein Leben bangen müssen. Das spüre ich zum ersten Mal. Pläne habe ich bis auf einen keinen.
In einem Interview haben Sie mal gesagt: „Leiden gehört bei uns in der Familie irgendwie dazu. Wie meinen Sie das?
Das Leiden ist ein Teil meiner Persönlichkeit. Es gab Zeiten, da hatte ich depressive Tendenzen, nur weil ich keinen Sport machen konnte. Das ist schon ein bisschen krank.
Mihály Csíkszentmihályi, ein Professor für Psychologie an der Universität von Chicago, vergleicht Bergsteiger und Triathleten mit Borderline-Patienten. Beide würden sich gerne und freiwillig Schmerzen zufügen. Hat er Recht?
Waffenruhe kannte mein Körper nicht. Ich erlaubte es mir nie, mich auszuruhen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie eine „sadistische Genugtuung“ im Verkomplizieren ihres Lebens verspürten.
Diese Zeiten sind vorbei. Ich habe mich in der Zwangspause vor einem Jahr zum ersten Mal wieder frei gefühlt. Jahrelang war mein Körper der Sklave meines Kopfes, jahrelang habe ich ihn als „Feind“ betrachtet. Zum ersten Mal ließ ich mich treiben, backte Brot, kochte Marmelade.
Ich spielte Hausfrau und machte Dinge, die normale Leute so machen. Früher sind Dinge am Berg passiert, da hätte ich das eine oder andere Mal sterben können.
Welche „Dinge“ meinen Sie?
Zu viert wollten wir (Tamara Lunger mit Simone Moro, Alex Txikon und Ali Sadpara, Anm. d. Red.) 2016 den Nanga Parbat, den Schicksalsberg der Deutschen, besteigen. Am Gipfeltag war ich nicht gut drauf, habe mich den ganzen Tag übergeben.
Ich stand 70 Meter unter dem Gipfel. „Wenn ich jetzt nicht umdrehe, sehe ich meine Familie nicht mehr“, dachte ich. Das habe ich gemacht, ich bin den steilen Abhang runter. Als ich über eine Spalte gesprungen bin, hatte ich keine Reaktion mehr, bin auf dem Bauch gelandet.
Das ist doch nicht schlimm.
Wie ein Pinguin bin ich auf dem Bauch den Abhang runtergeschossen.
Hätten Sie die Steigeisen nicht ins Eis hauen können?
Keine gute Idee, dadurch hätte ich mir einen Fuß abreißen können. Beim Versuch, den Pickel ins Eis zu hauen, hat es mir die Schulter verrissen. Ich wusste: Ab hier geht es abwärts. Ich habe nur noch auf den Moment gewartet, bis es mich in Stücke reißen wird – das Gebiet war mit Felsen übersät. Von der Welt hatte ich mich verabschiedet.
Heute sitzen Sie vor mir. Wie ging es weiter?
Das war wie bei „Ice Age“, dort gibt es das Eichhörnchen „Scrat“. Die Mütze war mir ins Gesicht gerutscht, als ich 200 Meter weiter in einem Schneehaufen einschlug.
Was wäre passiert wenn er nicht dort gewesen wäre?
Dann wäre ich weitere 2800 Meter abgestürzt, das wäre mein sicherer Tod gewesen. Gerettet war ich noch lange nicht. Die Sonne ging unter und ich musste noch mein Zelt finden. Als ich dieses gefunden hatte, kamen die anderen drei. Die waren zwar auf dem Gipfel, aber auch so fix und fertig wie ich. Simone hatte die Zehen erfroren, Ali die Nase, Alex war komplett kaputt.
Gipfelglück sieht anders aus.
Sie wollten sich aus Respekt vor mir nicht freuen, ich weiß es nicht. Es hat fast keiner was gesagt. In dem Moment merkte ich, dass ich eine Frau bin.
Wie meinen Sie das?
Nach dem Absturz fühlte ich mich verletzt und alleine gelassen. In den Tagen zuvor haben wir noch alle im Zelt gegessen, geschnarcht, gepinkelt. Nach dem Sturz wollte ich meinen Kopf nur an eine starke Schulter lehnen, im Arm gehalten, getröstet werden. Da war aber niemand, der mir liebevoll über den Kopf streichelte. Mein ganzer Körper zitterte, tat höllisch weh. Ich war ein Häufchen Elend.
Was hätten die Kameraden anders machen sollen?
Das soll kein Vorwurf sein. Überhaupt nicht. Ich wollte nur wie eine Frau behandelt werden. Ich heulte wie ein Schlosshund, im Geheimen, um keine weitere Belastung in dieser ohnehin schon schweren Situation zu sein. Die Schulter schmerzte, im Fuß waren die Bänder gerissen, mein Körper mit Hämatomen übersät.
Ich wusste, wenn ich nicht auf meinen eigenen Beinen morgen absteigen würde, würde mir da oben niemand helfen können. Eine Rettung ist dort oben aussichtslos, da kommt kein Heli hin. Wie eine kranke Kuh bin ich tags drauf runter. In diesem Sommer kam die Erleuchtung.
Welche Erleuchtung?
Diesen Sommer habe ich so eine „Guru-Frau“ getroffen. Sie sagte zu mir. „Tamara, Du bist ein Mann. Wenn Du so weiter machst, lebst Du beim Höhenbergsteigen nicht mehr lange. Benimm Dich wie eine Frau, besteige die Berge wie eine Frau.“ Sie hatte Recht.
Die Männer sehen immer nur das Ziel, den Gipfel. Der Weg ist aber das Ziel. Wir Frauen steigen auf Berge mit Herz und Harmonie. Bei unseren Expeditionen war Simone der weibliche Part, ich der männliche. Er war allerdings auch froh, als ich beim Gasherbrum „tanta roba“ – also „viel Material“ – an mir hatte, sonst wären wir heute beide nicht mehr da.
Den ganzen Sommer über habe ich meditiert und viel nachgedacht. Auch über meine Weiblichkeit. Ich meine, dass ich seit ein paar Monaten mehr „Dolce“ bin: Weiblicher und weicher.
Bevor Sie zu einer Expedition aufbrechen, veranstalten Sie immer ein Fest. Warum?
Ganz einfach: weil ich nicht weiß, ob ich wieder lebend zurück nach Südtirol, zurück zu meiner Familie kommen werde. In der Todeszone kann alles passieren.
Sprechen Sie während der Abschiedszeremonie über den Tod?
Jeder, der an dem Fest teilnimmt, weiß, was das bedeutet, wenn ich abstürze oder ein Hirnödem bekomme. Deswegen sprechen wir fast nie darüber, was alles passieren kann. Aus diesem Grund umarmen wir uns alle am Schluss, immer lange und intensiv, oft fließen auch Tränen.
Wie war es bisher immer?
Bisher war es immer so, dass ein Pfarrer auf dem Fest eine Messe für mich gelesen hat. Wir haben Marienlieder gesungen und Fürbitten gesprochen. Es kamen alle: meine Freunde, Verwandte – alle, die mir am Herzen liegen. Erst beten wir zusammen, dann wird gegessen, getrunken und gefeiert. Wie auch immer meine Expedition ausgehen mag, diese Stunden kann uns niemand mehr nehmen. Es kann ja sein, dass wir uns nie wiedersehen.
„Im Basislager vom K2 hatte ich 2014 das Bedürfnis, die Toten zu suchen“, haben Sie in einem Interview gesagt. Wie viele haben Sie tatsächlich gefunden?
Zwei Tote und viele Einzelteile.
Einzelteile?
Finger, Füße, Arme. Dort oben liegt alles rum, es sieht wie auf einem Schlachtfeld aus. Viele sterben beim Abstieg. Der Gletscher, der ständig in Bewegung ist, trägt sie im Laufe der Jahre nach unten. Für mich gehört der Tod dazu.
Deshalb habe ich unten am Fuße der Achttausender auch den Friedhof besucht. Das ist so ein Art Hügel, wo Schilder an die verunglückten Bergsteiger erinnern. Mal haben sie einen Schuh des Toten dort als Andenken hingelegt, mal ein Körperteil wie einen Arm oder einen Fuß.
Das ist ja gruselig.
Der Tod gehört wie gesagt zum Leben dazu. Ich habe schon zwei Mal gedacht, dass es bei mir vorbei ist, einmal habe ich sogar gespürt, dass am Lhotse die Seele meinen Körper verlässt. Das war schön und heimelig, nichts hat mir wehgetan, ich fühlte mich wie ein Engel. So war es nicht immer.
Als ich 2010 beim Cho Oyu geholfen habe, die Leiche von Walter Nones, einem befreundeten Bergsteiger aus Südtirol zu bergen, war das hart für mich. Meine Leidenschaft für die Berge war von einer auf die andere Sekunde weg. Ich bin noch im Basislager geblieben, obwohl meine Gruppe heimgefahren ist. Ich hatte das Gefühl: Wenn ich jetzt aufgebe, dann gebe ich meine Leidenschaft auf.
Es hat mir letztendlich gut getan, den Gipfel nochmals zu versuchen, diese Erfahrung zu machen, auch wenn es mit dem Gipfel nicht geklappt hat. Denn wenn man nicht bereit ist zu sterben, dann ist man auch nicht bereit zu leben. Wenn ich mal sterben sollte, soll das keine Trauerfeier werden, sondern ein Fest.
Sie wollen eine Party haben, wenn Sie gestorben sind?
Ich habe meinen Sarg und meine Kirchenlieder schon ausgesucht. Der Sarg wird aus hellem Holz sein und darauf hätte ich gerne einen schönen Kopf von Jesus. Es soll ein fröhlicher Tag werden.
Haben Sie vielleicht suizidale Tendenzen?
Ich liebe das Leben! Viele Leute sagen, dass ich verrückt wäre, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich sehe das anders: das, was ich mache, liebe ich. Ich kann natürlich wie viele andere zu Hause auf dem Sofa sitzen bleiben, dann wäre ich aber unglücklich.
Wenn Ihnen aber am K2 etwas passiert wäre …
… hätte mir niemand helfen können. Um dorthin zu gelangen, muss man sechs bis acht Tage über den Baltoro-Gletscher wandern, das nächste Dorf liegt 110 Kilometer weit entfernt. Wenn ich mir über 7000 Meter den Fuß breche, bin ich verloren. Kein Mensch hätte mich dort oben retten können.
Jesus stellen Sie sich in ihrer Biografie so vor: „Muskulös, definiert, mit Wochenbart und schulterlangem, etwas gelocktem Haar. Sicher hat er auch ein Sixpack.“
Ich stelle mir einen schönen Mann vor, so wie der Hollywood-Schauspieler Bradley Cooper im Film „A Star is born“. Für Sie hört sich das komisch an, aber ich bin überzeugt, dass Jesus auf mich aufpasst. Er ist der einzige Mensch, der mich niemals enttäuschen wird. Das weiß ich nicht nur, ich habe es schließlich einige Male erlebt.
Sind Sie religiös erzogen worden?
Vor dem Schlafengehen haben wir daheim immer gebetet. Heute mache ich das nicht mehr. Ich lebe die Religion, muss aber nicht an den Wochenenden in den Gottesdienst gehen oder jeden Tag „Vaterunser“ beten. Mir gibt der Glaube an Gott Halt.
Fühlen Sie sich am Berg mehr als Bergsteiger oder Bergsteigerin?
Über die Monate, die man mit dem anderen Geschlecht auf wenigen Quadratmetern auf den Bergen verbringt, nähert man sich an. Irgendwann merken die Männer selbst den Unterschied nicht mehr. Sie prahlen mit ihren Weiber-Geschichten, denken, dass ich „einer" von ihnen bin.
Merken Sie nie einen Unterschied?
Ich kann mich genauso auspowern wie ein Mann. Die einzigen, die am Berg nerven, sind oft Frauen. Ich habe schon einige Male erlebt, dass es zwischen den Frauen sehr viel Konkurrenzdenken gibt und das immer mit negativer Energie verbunden ist.
„Wenn ich von einer Expedition zurückkomme, gehe ich alleine heim. Meine Freundinnen sitzen zuhause in Südtirol, haben einen Mann und schon ein oder zwei Kinder. Was habe ich? Ich kann ja schlecht einen Achttausender in meine Wohnung mitnehmen“, haben Sie in unserem letzten Interview gesagt? Ändert sich das?
Mit 20 wollte ich Kinder haben, hatte aber keinen Mann. Dann war ich die vergangenen Jahre zu egoistisch. Ob sich das nun ändert? Wir werden sehen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Früher wollte ich wie Heidi sein. Sie ist in den Bergen zu Hause, fühlt sich dort am wohlsten. Sie hat eine herzliche und liebenswerte Art. Viele Erwachsene sollten so sein wie sie, schließlich sollte man sein Kinderherz niemals verlieren. Irgendwie bin ich der Heidi aber entwachsen.
Ich glaube, mittlerweile bin ich wie Pippi Langstrumpf. Ich bin zwar nicht so stark wie sie und kann das Pferd nicht in die Höhe stemmen, aber wenn ich sie treffen könnte, würde ich ihr meine Berge zeigen.
Wie würden Sie Pippi diese erklären?
Die Berge sind alles für mich. Sie können mich nicht enttäuschen. Und wenn sie mich doch mal enttäuschen, dann habe ich einen Fehler gemacht. Es gibt nichts für mich, was stärker ist als meine Liebe zu den Bergen. Sie bedeuten für mich alles: Freiheit, Glück, Zufriedenheit. Ich bin sogar bereit, für meine Liebe, die Berge, zu sterben.
Tamara Lunger im Interview: Weitere Interviews und Reportagen auf Planet Outdoor
- Simon Messner im Interview
- Gerlinde Kaltenbrunner und Ralf Dujmovits im Interview
- Blinder Bergsteiger Andy Holzer im Interview
- Martin Maier im Interview
Porträtfotos: Daniel Hug