Reportage

Schicksalsschläge am Berg

Scheitern, das bedeutet für Extrembergsteiger bestenfalls, nicht ans Ziel zu gelangen. Oft tragen die Alpinisten gesundheitliche Schäden davon – und für etliche endet das Bergabenteuer tödlich. Doch wie ist es um diejenigen bestellt, die mit solchen Schicksalsschlägen weiterleben müssen?

Göschl und Hählen etwa einen Monat vor dem Sturm am Hidden Peak
Göschl und Hählen etwa einen Monat vor dem Sturm am Hidden Peak© Jochen Hemmleb

Zwei Tage nach dem letzten Funkkontakt war Heike Göschl-Grünwald klar, dass ihr Mann nicht mehr vom Hidden Peak zurückkehren würde. "Es gab ein Wetterfenster, einige Stunden, in denen sie hätten absteigen können, wenn sie noch am Leben gewesen wären. Danach hatte ich zwar Hoffnung, aber mein Kopf hat mir etwas anderes gesagt."

Auf jedem 8000er fotografierte sich Göschl mit einem Porträt von Frau und Kindern. Ihr Mann, der österreichische Extrembergsteiger Gerfried Göschl, war im Januar 2012 vom heimischen Liezen aufgebrochen, um mit dem Hidden Peak (auch Gasherbrum I genannt, 8080 m) erstmals einen Achttausender im Winter zu überschreiten.

Am Morgen des 9. März 2012, 450 Meter unter dem Gipfel, funkte er eine letzte Nachricht ins Basislager: Sie klang erschöpft, aber auch zuversichtlich, den Gipfel doch noch rechtzeitig während des kurzen Schönwetterfensters zu erreichen.

Dann brach der Sturm los. Erst sechs Tage später erlaubte eine Wetterbesserung die Suche mit Hubschraubern. Doch da fehlte am Berg bereits jede Spur von Göschl und seinen zwei Begleitern, dem Schweizer Cedric Hählen und Nisar Hussain aus Pakistan.

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Schicksalsschlag am Berg: Viele Fragen - ohne Antworten

Warum drehten sie nicht um, als sie merkten, dass sie so langsam nur vorankamen? Warum hatten sie, entgegen den ursprünglichen Planungen, dann doch entschieden, Zelte und Schlafsäcke mitzutragen? Warum nahmen sie keinen weiteren Funkkontakt mehr auf ? Die Ungewissheit, was dort oben am 9. März tatsächlich passiert ist, begleitet Heike und ihre beiden Kinder, neun und fünf Jahre alt, nun schon seit mehr als drei Jahren.

"Hannah, die Ältere, war ganz lang optimistisch, dass der Papa schon wieder zurückkommt. Weil er bis dahin ja immer zurückgekommen ist. Später hat sie begonnen, Fragen zu stellen", berichtet Mutter Heike. Dieselben Fragen, die sie sich auch selbst stellte und die sie nicht beantworten konnte. "Ich habe mir sehr bald psychologische Hilfe gesucht und mir erklären lassen, was da in der Psyche von mir und den Kindern gerade passiert angesichts dieses Verlustes", erzählt die 36-jährige Lehrerin. "Ich wollte, dass sie möglichst wenig Schaden nehmen."

Peter Schüßler, Mitglied im Vorstand der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie, einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft mit 1700 Mitgliedern, die mit Betroffenen traumatischer Ereignisse arbeitet. Er weiß, dass es für die Angehörigen ungleich schwieriger wird, wenn es keine Toten gibt, die man begraben kann. "Unter Umständen bleibt da immer ein letzter Hoffnungsfunke, was verhindert, dass der Trauerprozess richtig initiiert wird. Die Leute können es dann nicht abschließen", sagt Schüßler.

Die Prozesse, die nach einer plötzlichen Todesnachricht bei den Angehörigen ablaufen, reichen vom anfänglichen Nicht-Wahrhaben- Wollen über die nachfolgende Verzweiflung und Wut bis hin zur Phase der Apathie, in der nur noch Ohnmacht und ein dunkles Loch bleiben. "Es endet ja nicht nur das Leben des Unfallopfers, sondern auch in gewisser Weise das eigene", fühlt Schüßler mit.

Eine Regel für die Dauer einer angemessenen Trauerzeit will der Psychologe nicht geben. Wer einen Monat danach noch immer von Flashback-Erlebnissen, Schlafstörungen und Gedächtnisverlust gequält wird, der sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. "Eine solche Traumafolgestörung kann allerdings nur bekommen, wer den Unfall miterlebt hat", erklärt Schüßler. "Trauerschmerz allein ist kein Trauma."

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Trauma-Risiko für Bergretter

Schüßler, der auch Rettungsfachkräfte beim Katastrophenschutz ausbildet, hat selbst schon einige Unfälle miterlebt – am Berg wie auch als Rettungsassistent auf der Straße. »Beim ersten schwerwiegenden Einsatz reagieren die Leute relativ heftig«, ist seine Erfahrung. "Doch dann entwickeln sie schnell Strategien, damit in Zukunft umzugehen." Eine dieser Strategien ist, bestimmte Aspekte – vor allem die menschlichen – einfach auszublenden.

Statistiken sprechen davon, dass 20 Prozent der Einsatzkräfte direkt nach dem Unfall akute Symptome einer psychischen Belastung zeigen. Vier Wochen später sind es nurmehr drei Prozent, die tatsächlich mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu kämpfen haben. Schwierig werde es, wenn Kollegen, Freunde oder auch Kinder unter den Unfallopfern sind. Dann können selbst erfahrene Rettungskräfte ihre Anteilnahme nicht mehr ausblenden.

Mit Rettungskräften führt der Psychologe Gruppengespräche, bei denen sie gemeinsam das Erlebte rekapitulieren und Gedächtnislücken füllen, um so besser mit den belastenden Erfahrungen umgehen zu können. Lücken füllen, das versucht auch Heike Göschl-Grünwald. »Bewältigen kann man einen solchen Verlust nicht«, sagt sie. "Die Situation, ohne Ehemann zu sein, hört ja nicht auf."

Bei der Bewältigung des Alltags bekommt sie viel Unterstützung von ihrer Familie und hin und wieder auch von Psychologen, die sie nach wie vor zu Rate zieht. Die Wissenslücke darüber, was damals am Hidden Peak geschehen ist, hat sie allerdings noch nicht füllen können. Ein befreundeter Pakistani hält regelmäßig Ausschau nach eventuellen Spuren der Verschollenen. Bisher ist nichts aufgetaucht.

»Irgendwann werde ich sicher selbst einmal zum Hidden Peak fahren«, sagt die Witwe. Dann, wenn die Kinder älter seien. »Und vielleicht finde ich dort dann sogar noch ein Zeichen von ihnen.«

Tipp: Die zehn wichtigsten Schritte im Notfall

  1. Eigengefährdung erkennen: Absturz- und Steinschlag-Risiko, Wetterverhältnisse einschätzen
  2. Rettung der verunfallten Person aus dem Gefahrenbereich
  3. Lage checken und Notruf absetzen: Die Notruf–Nummer 112 gilt in ganz Europa. Hilferuf an Bergsteiger in der Nähe absetzen mittels alpinem Notsignal (Lichtzeichen oder Rufen)
  4. Wenn kein Bewusstsein/ keine Atmung / keine Lebenszeichen festgestellt werden können: mit Herzdruckmassage und Beatmung beginnen
  5. Bei vorhandener Atmung und Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage
  6. Nur bei schwachem Kreislauf und wenn weder akute Herzerkrankung noch Bauch-, Bein-, Becken- oder Kopfverletzung vorliegt: Schocklage
  7. Bei Kopfverletzungen oder Atembeschwerden: Oberkörper erhöht lagern
  8. Bei starken Blutungen: Körperteil nach Möglichkeit hochhalten oder erhöht lagern, Druckverband anlegen
  9. Für Wärmeerhalt sorgen mittels Rettungsdecke, Jacken etc.
  10. Verunfallten betreuen: Bei ihm bleiben, erklären, was gerade passiert, nachfragen wie es ihm/ihr geht, Tatsachen nicht verschleiern, positive Grundhaltung, Sicherheit vermitteln

Zum Nachlesen: Erste Hilfe für die Psyche

Katastrophen, Bergunfälle, der plötzliche Tod eines geliebten Menschen: Diese Erfahrungen können Menschen von Grund auf erschüttern. Wie sind schwere seelische Verletzungen zu bewältigen? Wie können Traumatisierte ihr Leben neu gestalten? Wie man anderen oder sich selbst Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen leisten kann, erklärt der Begründer der Psychotraumatologie Gottfried Fischer in seinem Buch "Neue Wege aus dem Trauma." (Patmos Verlag 2011). 

Darin stellt der Psychologe das Phänomen mit seinen typischen Folgen verständlich vor und vermittelt Betroffenen zahlreiche Übungen, wie sie das Unfassbare fassen und in ihr Leben integrieren können.

Gesund bleiben am Berg: Unsere Tipps

Fotos: alle (4) aus dem Buch »Gerfried Göschl. Spuren für die Ewigkeit«, Jochen Hemmleb, egoth Verlag 2014