Extrembergsteiger David Göttler im Interview: „Umkehren ist eine Chance“
Nach zwei gescheiterten Versuchen hat der Höhenbergsteiger David Göttler den Everest ohne Sherpa und ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen. Im Interview mit Planet Outdoor spricht Göttler über das Umkehren am Berg und das Ehrlichsein mit sich selbst.
Planet Outdoor: Herr Göttler, im Mai standen Sie endlich auf dem Everest – nachdem Sie 2019 und 2021 jeweils abbrechen mussten. Eine Genugtuung, oder?
David Göttler: Umdrehen ist Part of the Game. Nicht nur im Bergsport oder beim Wandern, sondern generell in unserem Leben. Wir sind so getrieben! Was zählt, ist Erfolg, Erfolg, Erfolg. Umdrehen ist mit Misserfolg verknüpft, kommt nicht gut an. Wenn wir uns aus unserer Komfortzone rausbegeben wollen und unsere Grenzen verschieben, dann müssen wir aber akzeptieren, dass man hie und da mal umdrehen muss. Wäre ich 2019 und 2021 nicht umgekehrt, hätte ich nichts gelernt. Von jedem Umdrehen ist mir wichtig, etwas daraus zu lernen – und zu akzeptieren, dass es Teil des Prozesses ist, besser zu werden.
Umkehren ist aber nicht immer leicht.
Das Schwierige ist, diesen Punkt zu erkennen, an dem ich umdrehe und sage: „Jetzt bin ich aus meiner Komfortzone raus und habe meine Grenzen schon verschoben. Wenn ich jetzt weitergehe, wird es gefährlich, dann lehne ich mich zu weit raus.“ Im Bergsteigen kann dieses „verkehrt gehen“ halt sehr schnell sehr krasse Konsequenzen haben, im Vergleich zu anderen Sportarten, wo man das Spiel verliert oder den Punkt nicht macht.
David Göttler: So erkennt man den Risikobereich im Bergsteigen
Wie erkennt man den Risikobereich?
Das ist ein Prozess, der bei mir seit mehr als 20 Jahren andauert. Man sieht so viele Leute, die von 0 auf 100 in die Berge kommen, weil sie das irgendwo sehen. Es ist ja super, wenn sie in die Berge gehen. Jeder, der nicht zu Hause auf dem Sofa sitzt, in den Fernseher oder aufs Handy schaut, sondern in den Bergen unterwegs ist, ist super. Einer mehr da draußen, der die Natur genießt. Aber da sind auch wir als Profisportler gefragt, noch mehr Aufklärungsarbeit zu leisten und Angebote zu schaffen, dass auch dem Neuling möglichst viele Infos und Tipps bereitgestellt werden.
Wie kann man mehr Bewusstsein für das „Erfahrungen sammeln“ zu schaffen?
Gerade zu Beginn ist es unglaublich schwer, das eigene Können gut einzuschätzen. Die Leute sehen in den sozialen Netzwerken, was ihre Kumpel und ihre Vorbilder letzte Woche gemacht haben und wollen das auch machen. Vor allem das Scheitern am Berg und die Erfahrung, die man für manche Touren anhäufen muss, muss ehrlicher kommuniziert werden. Die Leute sollen aber auch nicht belehrt werden - wir wollen ja den Spaß nicht vorneweg nehmen.
In Ihren Social-Media-Accounts sparen Sie Zweifel und Misserfolge nicht aus.
Das ist etwas, das sehr wichtig ist: Der Hobbybergsteiger draußen muss sehen, dass auch Profis einmal einen Tag haben, wo sie sich nicht gut fühlen. Und gerade beim Bergsteigen ist es unglaublich wichtig, in solchen Situationen nicht durchzupressen. Wenn ich einen Marathon laufe, kann ich wirklich laufen, bis ich umkippe. Da nimmt mich einer und ich bin wieder im Sicheren. Am Berg ist das nicht so.
David Göttler: Warum Umkehren eine Chance ist
Bei Profi-Bergsteigern stehen Jahre der Vorbereitung auf dem Spiel. Doch auch bei „normalen“ Bergtouren fällt das Umkehren schwer.
Wir müssen ein Umdenken schaffen: Dass Umkehren eine Chance ist, sich zu verbessern. Wenn du umkehrst und nicht in der Lage bist, zu reflektieren „Warum bin ich umgekehrt? Was kann ich beim nächsten Mal besser machen?“, dann ist es für die Katz. Dann bist du Sisyphos, der seine Kugel rollt. Aber wenn du vom Moment des Umdrehens etwas lernst, ist das eine unglaubliche Bereicherung. Ein Moment, der dir geschenkt wird, um besser zu werden.
Wie findet man die Kraft, im richtigen Moment umzukehren?
Man muss damit anfangen, mit sich selber ehrlich zu sein und sich die Frage stellen: „Warum mache ich das?“. Um mir selber oder meinen Followern etwas zu beweisen? Oder weil ich einen schönen Tag da draußen erleben will? Wenn ich das beantworten kann, weiß ich schon viel über meine Motivation. Dann kann man sich eine Strategie überlegen, die einem das Umdrehen leichter macht.
Wenn mir zum Beispiel der Post vom Gipfel sehr wichtig ist, kann ich zwei Bilder von einem schönen Platz davor machen. Mit der Geschichte, dass ich es eingesehen habe und umgedreht bin, bekommt das am Ende vielleicht mehr Likes und Engagement als das Gipfelbild, das schon tausend Leute zuvor rausgeballert haben. Wenn ich den Gipfel nur für mich selbst besteige, ist das Umdrehen ebenfalls okay. Dann nehme ich das als positiven Moment mit, aus dem ich etwas lernen kann.
Am Everest hast du dich Schritt für Schritt immer wieder hinterfragt. Deine Worte waren "Schaffe ich es auch wieder zurück?".
Ich war vollkommen angespannt und habe versucht, konzentriert zu bleiben, weil ich viel Respekt hatte vor dem Rückweg. Das gilt ja für jede Tour. Man meint, der Gipfel ist das Ziel. Das Ziel muss aber sein, wieder heil vom Berg runterzukommen. Der Gipfel ist, wenn wir Glück haben, die Halbzeit. Das Runtergehen gerade an den hohen Bergen kann so viel härter sein. Weil die Motivation, dieser eine Punkt, auf dem man den Fokus legt, weg ist. Runtergehen kann genauso anstrengend sein wie Hochgehen.
Das sieht man auch oft in den Alpen, wenn der Weg rutschiger ist. Runter sind die Leute oft wie versteinert. Gerade am Everest gibt es zig Geschichten, wo das tödlich geendet ist. Ich wusste schon beim Aufstieg: Da sind ein paar Gegenanstiege am Rückweg! Auch wenn das nur zehn Schritte waren: Da oben ist das sehr viel. Ich habe konstant mit mir dieses Selbstgespräch geführt: „Horch‘ in dich rein! Schaffe ich das noch zurück? Passt das von der Kraft? Fühlt sich noch okay an, gehen wir weiter.“
Interview: Julian Galinski, Markus Röck, Thomas Becker
Zur Person: David Göttler
David Göttler wurde 1978 in Starnberg geboren und ist in München aufgewachsen. Seit seinem siebten Lebensjahr geht Göttler in die Berge. Heute ist er Profibergsteiger und einer der besten Höhenbergsteiger Deutschlands. Ihm gelangen schwierigste Touren in den Alpen, in Patagonien, im Karakorum und im Himalaya, und er stand jeweils ohne
zusätzlichen Sauerstoff auf sechs Achttausendern (Mount Everest, Gasherbrum II, Manaslu, Makalu, Lhotse und Dhaulagiri). Göttler lebt im Sommer mit seiner Frau in Nordspanien und im Winter in Chamonix.
David Göttler im Bergsteiger-Interview
Enorm geholfen bei seinen Everest-Vorhaben hat David Göttler auch die Arbeit mit einer Mentaltrainerin. Ihr Tipp: „Mach‘ einen Vertrag mit dem Berg!“. Mehr dazu im Interview mit David Göttler in der aktuellen Bergsteiger Ausgabe 11/22. Hier geht’s zum Shop.