Wandern Dolomiten: Die Sella-Überschreitung
Vom Grödner Joch zum Pordoijoch. Genau im Herzen Ladiniens ragt der zweigeschossige Sellastock auf, ein festungsgleiches Bollwerk mit steilsten Randabstürzen und einem regelrechten Flachdach, das von der Pyramide des Piz Boè gekrönt wird. Dieser Ausstrahlung kann sich niemand entziehen, egal von welcher Seite man die Sella zu Gesicht bekommt. Sie verkörpert schlichtweg geballte »Dolomitenpower«.
Die Gralsburg Ladiniens
Einmal über die Sella wandern – nicht bloß eine Stippvisite von der Seilbahn auf den Piz Boè, sondern das gesamte Massiv überschreiten –, diesen Traum hegt wohl so mancher, der sommers in den vier ladinischen Tälern ringsum ein paar Ferientage verbringt. Nun, die Festungsmauern erscheinen wehrhaft und die karge Hochfläche weltentrückt. Drunten im Grödner Tal und Hochabtei, im Buchenstein und Fassatal macht man sich ja kein Bild davon, wie es oben auf fast 3000 Meter Meereshöhe ausschaut. Ein Sockel aus kompaktem Schlerndolomit und ein Obergeschoss aus Hauptdolomit, dazwischen das von weicheren Raibler Schichten gebildete markante Terrassenband – so lautet auf eine Kurzform gebracht der geologische Aufbau der Sella. Die kolossale Wucht als Ganzes ist wirklich unvergleichlich, das wüstenhafte Hochplateau, auf dem kaum ein Halm wächst, in seiner Kontrastwirkung geradezu frappierend. Und über allem thront gleichsam wie ein i-Tüpfelchen der Piz Boè, dem die Menschheit mit einer kleinen Hütte und einem großen Reflektor unbedingt noch eins draufsetzen musste.
Aufstieg durchs Val Setùs
Die Nord-Süd-Überschreitung folgt jener Linie, die auch der beliebte Dolomiten-Höhenweg Nr. 2 nimmt. Er findet vom Grödner Joch ausgehend im Val Setùs den Durchschlupf inmitten der Nordfront. Vom Gasthaus Frara geht es zuerst an einem Wiesenrücken hoch, ehe die Felsmauern nach einer Linkstraverse den engen Karwinkel freigeben. Viele Kehren lassen uns in dem Geröllschlauch an Höhe gewinnen. Dabei passiert man den massigen Campanile Campidel und nähert sich einer Felsbarriere, die fast durchgängig als Klettersteig ausgebaut ist. Nicht jeder Anwärter kraxelt hier behände über die Hürden hinweg – objektiv gefährlich ist die Sache bei Vereisung, was wegen der Exposition nach Norden nicht so selten vorkommt. Durchschnaufen können wir beim Ausstieg auf das breite Sella-Ringband (P. 2610), wo man links haltend in Kürze zum Rifugio Pisciadù (2585 m) gelangt. Auch wenn die Aussicht nach Süden durch Sas da Lech und Cima Pisciadù noch komplett verstellt ist – dieser Fleck ist in seiner Wirkung zu Recht hochgerühmt. Vor allem das Hochabtei überblickt man hier in vorzüglicher Weise.
Wie auf dem Mond
Am Pisciadùsee vorbei geht es in die nächste Bergkehle hinein. Am Felssockel auf der linken Seite aufwärts stoßen wir erneut auf Sicherungen, die den Durchstieg ins Val de Tita erleichtern. Dort flacht das Gelände bald wieder ab. Wo linker Hand die Normalroute auf die Cima Pisciadù abzweigt, wenden wir uns nach rechts aufwärts, schlüpfen durch einen Felsspalt und kommen auf einen flachen Höhenrücken: die Schwelle zum eigentlichen Sellaplateau. Der Vergleich mit einer Mondlandschaft scheint abgedroschen, aber es gibt kaum eine bessere Metapher. Selbst unter einem blauen Himmel wirkt diese Welt herb und schwermütig. Als Blickfang ist inzwischen der Piz Boè aufgetaucht, während wir in mittleren und weiteren Distanzen namhafte Dolomi-tenmassive identifizieren können. Über die flachen, geröllbedeckten Steinbänke verlieren wir zur Forcella Antersas einige Höhenmeter und sollten nicht versäumen, ein paar Schritte nach links gegen die Abbruchkante vorzutreten. Dort bietet sich der Einblick in die kapitale Schlucht des Mittagstals (Val de Mesdi). Ob man anschließend den Zwischenkofel (L’Antersas, 2907 m) überschreitet oder links auf dem Coburger Weg mit gesicherten Traversen umgeht, bleibt Geschmackssache. Nach der Vereinigung beider Varianten stehen wir in Kürze beim Rifugio Boè (2871 m), dem zentralen Stützpunkt der Sella (einstmals Bamberger Hütte).
Die Hauptroute des Dolomiten-Höhenwegs Nr. 2 passiert den überragenden Piz Boè jetzt ohne nennenswerte Höhendifferenzen auf der Westseite und strebt nach einem Rechtsknick der Forcella Pordoi (2829 m) mit ihrem Rifugio zu – randständig am Südabfall der Gruppe gelegen. In diesem Bereich ist gewöhnlich jede Menge los, zumal die Seilbahn auf dem nahen Sas Pordoi im Halbstundentakt Touristen ausspuckt. Für uns wäre die Sella-Überschreitung damit fast geschafft. Bleibt nur noch der Abstieg durch die steile Geröllrinne, die als Schutthang immer breiter ausläuft. Im Zickzack steigen wir bis in grasiges Gelände ab und werden vom touristischen Komplex amPasso Pordoi geschluckt – Kontraste à la Sella sind manchmal ganz schön hart…
Region
Touren-Charakter
Hochalpine Tour mit steinigen Wegen, je nach Bedingungen auch heikle Schneefelder möglich. Einige Passagen gesichert. Bergerfahrung und gute Trittsicherheit notwendig; konditionell durchschnittliches Pensum.
Beste Jahreszeit
Anfang Juli bis Ende September
Ausgangspunkt
Grödner Joch (2121 m), Straßenpass zwischen Gröden und Hochabtei
Endpunkt
Passo Pordoi (Pordoijoch,Route
Grödner Joch - Rifugio Pisciadù 2 Std. - Rifugio Boè 2 Std. - Forcella Pordoi ¾ Std. - Passo Pordoi 1 Std.; insgesamt 5¾ Std.
Höchster Punkt
Etwa 2950 m auf der Sella-HochflächeGipfeltour
Im Grunde wäre es ja eine verpasste Gelegenheit, den Piz Boè (3152 m) auszulassen. Denn obwohl es dort oben bei der kleinen Capanna Fassa tagsüber wie auf einem Ameisenhaufen zugeht, verdient die Aussicht alle denkbaren Sternchen. Am meisten fasziniert die Marmolada in ihrem Eisgewand, am stimmungsvollsten ist für mich der Blick ins Buchenstein, in dessen Verlängerung die großen Bergstöcke der Ampezzaner Dolomiten Parade stehen. Vom Rifugio Boè gewinnt man den Gipfel über eine Steilstufe mit gesichertem Band, einen Schutthang und den abschließenden Nordgrat. Der Abstieg verläuft über den gutmütig gestuften Südwestrücken (Nr. 638, ca. 1 Std. zusätzlich).
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Insbesondere bei GPS Daten können Abweichungen nicht ausgeschlossen werden.
Sicher unterwegs: Ein glücklicher und erfolgreicher Tag in der Natur setzt nicht nur die richtige Vorbereitung,
sondern auch auch verantwortungsbewusstes Handeln auf Tour voraus. Das solltet ihr bei der Tourenplanung immer beachten.